Jürgen Trittin zur Halbzeit: Ampel kann Krise gestalten

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Halbzeitbilanz, das ist ja auch Teil eines Rituals zwischen Opposition und Regierung. Ich kenne beides: 9 Jahre auf der einen, 16 Jahre auf der anderen Seite. Es ist oft das Gleiche: Die Opposition hält der Regierung das Brechen von Versprechen vor, und die Regierung lobt sich selbst – manchmal zu Recht: Es gibt in Deutschland so viele Erwerbsarbeitsplätze wie nie zuvor in der Geschichte. Wir haben 170 Gesetze verabschiedet. Und jetzt gibt es sogar einen Haushalt.

Offensichtlich ist die Ampel handlungsfähiger, als die Ampel manchmal selbst glaubt.

Aber über gutes Regieren sagt so etwas nichts aus. Gutes Regieren beweist sich am Umgang mit einem Naturgesetz. Dieses Naturgesetz lautet: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Sie kennen das. Sie haben mal eine Regierung gebildet, um den rot-grünen Atomausstieg rückabzuwickeln. Dann kam Fukushima, und Sie wurden Teil des Anti-Atom-Konsenses, den Sie bekämpfen wollten. Wir kennen das auch. Wir wollten zum Beispiel ordentlich abrüsten. Dann kam der 11. September 2001, und wir schickten Soldaten nach Afghanistan, die dort 20 Jahre im Einsatz waren. Und die Ampel machte die gleiche Erfahrung: Wir wollten eine Fortschrittskoalition sein, und dann überfiel Putin am 24. Februar die Ukraine. Gutes Regieren erweist sich in solchen Krisen.

Gutes Regieren ist auch die Fähigkeit zur Umkehr. Das kann die Ampel. Wir haben eine Antwort auf Putins Aggression gegeben. Jahrelang hatten auch wir, wie Sie, gedacht, die Bundeswehr ist vor allen Dingen dazu da, internationale Missionen zu bestreiten. Jetzt schufen wir zusammen mit der Union ein Sondervermögen, um die Bundeswehr wieder so zu ertüchtigen, dass sie in der Lage ist, potenzielle Aggressoren tatsächlich glaubhaft abzuschrecken.

Wir als Grüne waren angetreten mit der Forderung nach einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Und wir sind heute nach den USA der zweitgrößte militärische Unterstützer der Ukraine. Wir zahlen im nächsten Jahr mehr als der Rest Europas. Und das tun wir im ureigenen Interesse. Wir dürfen nicht zulassen, dass Putin die Ukraine überrennt. Aber: Sicherheit braucht Militär.

Doch Sicherheit ist umfassender. Deshalb hat die Bundesregierung 33 Jahre nach der Wiedervereinigung auf Vorlage von Annalena Baerbock zum ersten Mal in der Geschichte eine Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt. Wir haben die Naivität gegenüber der Politik von China beendet. Es geht um die Sicherheit vor Krieg. Es geht um die Sicherheit unserer Art, zu leben und zu wirtschaften. Und es geht um die Sicherung von unser aller Lebensgrundlagen, insbesondere in der Klimakrise. Umfassende Sicherheit ist wehrhaft, resilient und nachhaltig.

Ja, Umkehr kann auch Korrekturen bedeuten. SPD, Grüne und FDP hatten gemeinsam die Kraft, Fehler von Rot-Grün zu korrigieren.

Mit der Anhebung des Mindestlohns, mit der Reform des Bürgergeldes und jetzt mit der Einführung einer Kindergrundsicherung sorgt die Ampel für mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Zusammenhalt in dieser Gesellschaft.

Aber es kommt noch etwas Weiteres hinzu: Gutes Regieren heißt auch, in der Umkehr – das ist paradox – Kurs zu bewahren.

Ich bin hier mal belächelt worden, als ich gesagt habe: Man könnte die 30 Prozent Gas aus Russland innerhalb von zehn Jahren ersetzen. Die mich belächelt haben, haben dann Anstrengungen unternommen, dass wir nicht ein Drittel, sondern mehr als die Hälfte unseres Gases aus Russland bekamen. Dann hat Putin die Gasversorgung gekappt. Robert Habeck hat bewiesen, dass man nicht zehn Jahre braucht, um aus dem russischen Gas auszusteigen. Er hat das in einem Jahr erledigt. Das hatte seinen Preis. Wir haben alles drangesetzt, die Gesellschaft zusammenzuhalten: mit Mehrwertsteuersenkung, mit Energiepreisbremse, Strompreisbremse. Und das trieb nach der Coronakrise selbstverständlich die Staatsschulden erneut in die Höhe. Aber es war erfolgreich. In Deutschland gingen nicht, wie prophezeit, die Lichter aus. Niemand musste frieren. Keine Betriebe wurden geschlossen. Hunderttausende von Arbeitsplätzen wurden gesichert. Das ist die Antwort der Ampel gewesen.

Aber wir gehen auch dem Übel an die Wurzel. Wir müssen unsere Abhängigkeit von Energieimporten beenden. Uran, Kohle, Öl und Gas – all das importieren wir. Deswegen haben wir eine Grundlage für einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien gelegt. Deshalb sind wir die Leerstelle beim Klimaschutz im Gebäudebereich angegangen. Deutschland hat sich von Putin nicht erpressen lassen. Wir haben mit der Ampel neue Grundlagen für mehr Energiesouveränität gelegt.

Auf der UN-Klimakonferenz in Dubai hat Annalena nicht nur erstmalig einen Fonds für die Verluste und Schäden durchgesetzt. In Dubai wurde die Abkehr von Öl, Kohle und Gas ebenso beschlossen wie die Verdreifachung der erneuerbaren Energien bis 2030. Und auch dafür hat Deutschland eine wichtige Grundlage gelegt. Mit heute 60 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien haben wir mehr Kohlestrom ersetzt als die 20 Prozent Atomstrom, die ursprünglich nur mal angedacht waren. Wenn wir vor 2030 aus der Kohle aussteigen werden, dann hat das damit zu tun, dass wir einen Emissionshandel auf den Weg gebracht haben, der dafür sorgt, dass sich die Zertifikatspreise so gestalten, dass dieser Ausstieg kommen wird.

Oder schauen Sie mal nach Indien: In Indien liegen die privaten Investitionen in Kohle seit drei Jahren bei null. Das liegt daran, dass man in Indien für einen halben Cent die Kilowattstunde Strom produzieren kann – mit Photovoltaik. Und Kohle ist dort nicht mehr wettbewerbsfähig. Dafür ist grüner Wasserstoff dort 2025 marktfähig. Wer hat die Photovoltaik so billig gemacht? Deutschland mit seinem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Das war klug von der Ampel, dass die EEG-Umlage künftig aus Steuern bezahlt wird und die Bürger von dieser Entwicklungshilfe entlastet werden.

Gutes Regieren schafft nachhaltige Veränderung. Sie sehen: Das kann die Ampel.

Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede hier im Bundestag – es ist meine letzte in diesem Haus – noch eine Sorge aussprechen. Weltweit erleben wir zutiefst gespaltene Gesellschaften: Schauen wir in die USA, die uns zur Demokratie befreit haben; blicken wir nach Spanien oder in die Niederlande. Überall erleben wir den Aufstieg rechter, ja, faschistischer Bewegungen und Parteien.

Sie drohen, demokratische Systeme zu blockieren, zu zerstören. Häufig führen sie zur Unregierbarkeit.

Vor 40 Jahren hatten viele befürchtet, dass das wiedervereinte Deutschland mit seinem Gewicht in Europa zu einer Gefahr werden würde. Heute gilt das Gegenteil: Deutschland ist zum Anker demokratischer Stabilität in Europa geworden.

Der Grund ist ziemlich einfach. Wir alle kennen die Art und Weise, wie wir Beifall von unseren Leuten bekommen: Kräftige Selbstvergewisserung, heftige Polemik gegenüber der politischen Konkurrenz. Aber Demokraten, zur Linken wie zur Rechten, haben gelernt, dass in den meisten Fällen Kompromisse und Konsense über die Lager hinweg gesellschaftlichen Streit beenden, vom Atomkonsens bis zum Sondervermögen für die Bundeswehr. Anders als in Spanien und in den USA sind bei uns sogar lagerübergreifende Koalitionen möglich.

Man mag sie nicht, aber man macht sie, auch wenn es schwer ist: in der Ampel, im grün-schwarzen Baden-Württemberg, ja auch im schwarz-roten Hessen. Kenia liegt in Sachsen und in Brandenburg – alles lagerübergreifend.

Das ist kein Ausweis von Beliebigkeit; das ist Ausdruck von Verantwortung.

Wenn Demokraten nicht zusammenstehen, kommen Antidemokraten an die Macht.

Wer das lernen will, gehe eine Etage tiefer und schaue sich dort den Tunnel an, durch den die Reichstagsbrandstifter kamen, die dieses Haus und die Demokratie abgefackelt haben. Dort steht auch das Kunstwerk von Christian Boltanski, das „Archiv der Deutschen Abgeordneten“. Für jeden frei gewählten Abgeordneten von 1919 bis 1999 steht dort ein Metallkasten – auch für mich -: für die, die die erste Demokratie in Deutschland begründeten; für die, die sie zerstörten; für die, die dagegen Widerstand leisteten und mit ihrem Leben bezahlten; für die, die die Demokratie des Grundgesetzes aufbauten in der alten Bundesrepublik, im vereinten Deutschland.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf ihren Schultern stehen wir. Man darf Antidemokraten keine Macht übertragen, nie wieder! Danke, dass ich in diesem Geiste 25 Jahre in diesem Haus arbeiten durfte.

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